Ti Hausschlange

Robert Becker
Ti Hausschlange

E Kschicht em Leit un Zeit

Illustrationen: Freya Saskia Becker
Coverdesign: Ákos Martin Gróf

VUdAK, Budapest

Bei dem Bischofskreuz über den Hohlweg hinauf ist man über die Weinbergsparzellen und den Kroatengraben von zu Hause bereits weg gewesen, weil man da am alten Steinbruch angekommen ist. Dort begann die Nachbarsgemarkung. Dort gab es keinen Weinberg mehr, dort wuchs kein Korn mehr, und dort gab es auch kein Maisfeld mehr. Es führte dort in den Wald hinein. Im Wald war es aber so dunkel, dass die Leute lieber einen großen Bogen drum herum machten, als dass sie einen Schritt hineingesetzt hätten. Nicht einmal der Jäger traute sich bis in die Mitte hinein, obwohl er immer auch eine Flinte dabeihatte.

Die Menschen sagten, dort drinnen sei es verwunschen, da dort nicht nur die Räuber, sondern auch noch Geister zu Hause seien. So war es am besten, nicht einmal in jene Richtung zu schauen, wenn man nicht auch selber verwunschen werden und vielleicht für immer im finsteren Wald verschwinden wollte, so dass man einen nie mehr finden würde.

Aber weil damals wie heute alles geschehen konnte, möchte ich euch jetzt gleich auch eine Geschichte erzählen, die, wenn sie so passiert ist, halt wahr ist, und wenn nicht, dann ist sie halt von jemand erfunden worden. Auch dies könnte sein. Ich meine aber, dass die Geschichte wahr ist, denn jene Leute, von denen ich sie gehört habe, niemals gelogen hätten. Weil wenn man einem Kind eine Geschichte erzählt, lügt man es doch nicht an. Wo würde die Welt sonst hinkommen, wie wäre dann der Verlauf der Geschichte?

Dies alles war damals geschehen, als selbst meine Urgroßmutter noch ein kleines Mädchen war. Ob das sich alles mit ihr selbst zugetragen hat oder nicht, das weiß heute kein Mensch mehr, da die Leute von damals nichts mehr sagen, weil sie doch schon über die Brücke gegangen sind, wo es kein Zurückkommen mehr gibt, weil das das Jenseits ist, wo einem der Heilige Petrus mit seinem großen Schlüssel aufschließt. Von dort wird man dann in unsere Welt ganz sicher nicht mehr herausgelassen.

Wenn man Glück hat, kommt man zu unserem Herrgott und der Gottesmutter Maria in die ewige Glückseligkeit. Ist man in seinem Leben aber nicht brav genug gewesen, wenn man viel Schlimmes angestellt hat, dann kommt man in die Hölle, oder vielleicht noch in das Fegefeuer, wo man seine Sünden durch große Schmerzen abdienen kann.

Das müsst ihr aber schon alle wissen, dass die Welt von damals gar sehr anders war als heute. So lasst euch von mir jetzt raten, dass ihr eure Augen schließt und euch mit eurer Phantasie alleine in der Welt von damals umschaut.

Das elektrische Licht machen wir aus, dann wird die kleine Ofentür am Sparherd aufgemacht, die Glut strahlt heiß, und das Licht wackelt mit der Flamme, die alle Schatten um uns herum tanzen lässt, wie wenn um uns herum nichts mehr fest wäre.

Es wird einem ein wenig schwindlig dabei, aber der Rausch gehört schon dazu, wenn man in eine Zeit zurückschauen will, die ausgedient hat, die längst vergessen ist, an die sich vielleicht nur noch vereinzelte Geschichtenerzähler erinnern. Jene sind wie Schamanen, die in den Urwäldern noch immer unterwegs sind und von einem Stamm zum anderen gehen, um davon zu erzählen, was damals gewesen ist, als die Welt noch in Ordnung war. Als die Leute über sich selbst und auch über ihren Platz in der Welt Bescheid wussten. Heutzutage wäre das ja auch besonders schön, wenn man davon wieder etwas halten würde, wer man ist, wo man hingehört und wo man in dieser Welt seinen Platz hat.

Bei uns ist das aber schon lange vorbei – selbst wenn alles nur um einen Tag drüber wäre. Denn früher, wenn man in einem Monat einmal mit einem geflochtenen Korb voll Rüben aus dem Garten zu Fuß in die Stadt ging, um sie auf dem Wochenmarkt zu verkaufen, dann kam man erst am Nachmittag wieder nach Hause, selbst wenn man schon früh am Morgen losgegangen war. Das war halt weit weg. Aber heute fliegt man in einem halben Tag um die Welt und ist erst nach zwei Wochen aus seinem Urlaub wieder zurück – weil das halt alles nicht mehr so weit weg ist.

Damals waren die Menschen arm, sie achteten aber einander, und wenn es Not hatte, halfen sie einander auch. Das Leben war hart, aber jedermann wusste seinen Platz darin. So die großen wie auch die kleinen Menschen. Denn die Kinder waren ja keine Kinder wie heute, sondern sie waren zu jener Zeit nur kleine Erwachsene. Sie mussten machen, was man ihnen aufgetragen hat. Ein Kind wurde auch nicht danach gefragt, ob es zu etwas Lust hatte oder ob es vielleicht Angst hatte, weil wenn es auf dem Feld zu tun gab, mussten die Menschen arbeiten, und sie konnten sich nicht um die Sorgen der Kinder kümmern. 

Sie standen dann in aller Herrgottsfrühe auf, fütterten die Tiere, aßen einen Bissen Brot, tranken einen Schluck Milch dazu, packten sich Jause in den Tornister, füllten auch einen kleinen Krug mit Wein zur Hälfte mit Wasser, holten ihre Hacke, eine Sichel und eine Harke aus der Scheune, dann gingen sie los, damit sie halt am Tag etwas ausrichten konnten. Da gab es keine Siebenschläfer! Denn die Leute hätten ihnen nach der Messe vor der Kirche übel nachgeredet.

So hatten die Kinder halt auch schon zu tun. Sie mussten aufpassen, dass die Enten und die kleinen Gänse frisches Wasser hatten, und wenn ein Huhn gackerte, mussten sie laufen und im Hühnerstall nachsehen, ob es dort vielleicht ein Ei gab, denn manche Hühner legten das Ei, pickten es dann an und fraßen es auf, was für die Wirtschaft einen Schaden bedeutete. Für so etwas konnte es, wenn die Mutter heimkam und in dem Nest das angetrocknete Eigelb sah, auch noch eine Ohrfeige geben, weil man verspielt war und nicht gut aufgepasst hatte.

Dann wurde aber auch geschaut, welches Huhn um den Schnabel herum gelb war. Das merkte man sich, und dann kam es halt am nächsten Sonntag in die Suppe. So war das Leben: streng, aber auch nicht unbedingt immer gerecht…

Jetzt sollt ihr aber in dieser Geschichte über die Hausschlange von mir etwas erfahren…


2. Die Hausschlange 

Einmal sollte meine Urgroßmutter über die Weinbergsparzellen mit der Schubkarre zum Kroatengraben fahren, weil es dort frische Brennnesseln gab, von denen die Enten doch so gut wachsen, dann kann man sie stopfen, und bei der Fresskirmes im Herbst, wenn die Verwandten aus den Nachbarsdörfern auch noch alle zu Besuch kommen, so einen Braten auf den Tisch stellen, dass sie sich danach alle zehn Finger schlecken. So wurde es dem Mädchen gesagt, damit sie wusste, sie hatte Verantwortung, weil das, was man ihr aufgetragen hat, kein Spiel war.

Das war dann auch so. Als ihre Eltern von zu Hause weg waren, stand sie bald auf, sie aß, was man ihr in den Brotkasten hingestellt hatte, sie streichelte die Katze und schmiss dem Hund, der angebunden war und so traurig vor seinem Häuschen hockte, dass er ihr leidtat, ein Stückchen Brot hin. „Nero, friss!“, befahl sie ihm, und weil er ein guter, braver Hund war, roch er erst nur ein wenig an dem Brot und schob es mit der Nase herum, um es dann doch aufzufressen. Das Abwaschwasser war dem Nero halt lieber, denn dort schmeckte das eingebrockte Brot noch ein wenig nach den gedünsteten Kartoffeln, und es gab manchmal auch noch ein paar abgekaute Speckschwarten darin.

Anna war zufrieden, weil sie etwas zu tun hatte, weil sie helfen konnte. „Wenn die Enten im Herbst geschlachtet werden“, dachte sie sich, „dann kriege ich von der Leber auf meinen Teller. Ich werde mein Brot in das Bratenfett tunken. Ich streue dann Salz und Paprika drauf, ich werde auch Knoblauch dazu essen. Dann sagt meine Mutter zu den Gästen bei der Kirmes: ‚Na, schmeckt euch der Braten? Stellt euch vor, meine Anna hat das Geflügel großgezogen, sie war mit der Schubkarre bis zum Kroatengraben gefahren, um Brennnesseln zu holen, weil die Enten sie ja so gerne fressen!’ Das wird meine Mutter sicher so sagen, und mein Vater wird dazu nicken. Das wird aber schön sein, dann kann ich auf mich stolz sein!“

Bei diesen Gedanken richtete das Mädchen schon vor dem Spiegel ihr Kopftuch, und sie wollte gerade den Finger in das Weihwasserkesselchen tauchen, um das Kreuzzeichen zu machen, bevor sie aus dem Haus ging, als sie auf einmal hörte: „Pst, pst!“ Sie schaute sich um, sah aber niemanden. So wollte sie gleich weitergehen, aber sie hatte noch keinen einzigen Schritt getan, als sie schon wieder hörte: „Pst, pst!“ – „Ist da jemand?“, fragte Anna mit ein wenig Angst in der Stimme. „Pst, pst!“, hieß es dann wieder, es kam ganz leise von ganz unten, vom Fußboden her:

„Nach unten richt‘ den Augenschein,
mickrig bin ich und ganz klein.“

Dann schaute das Mädchen hinunter, da war in der Türschwelle ein Riss, eine Spalte. Dort sah sie zwei kleine schwarze Augen glänzen. „Wer bist du?“, fragte Anna verwundert, weil sie meinte, es könnte bei ihnen unter der Türschwelle vielleicht ein Zwerg zu Hause sein.

Da war sie aber auf einmal froh, weil sie es von ihrer Großmutter wusste, dass Zwerge einen großen Schatz zusammentragen können, dann kann man auf einmal reich werden, man kauft sich dann ein Haus in der Stadt, dann lässt man sich neue Kleider nähen, dann spaziert man mit einem Hut mit Straußfedern obendrauf die Promenade entlang, mit einem Sonnenschirm auch noch über dem Kopf und mit weißen Handschuhen an den Händen, dann grüßen einem die Offiziere und die Herren Soldaten: „Kiss ti Hant, jung’s Fräulein!” …

„Pst, pst!“, hieß es dann schon wieder. „Ich bin eure Hausschlange“, rief jemand durch die Spalte. „Jessus Maria, das gibt es doch nicht!“, schlug die Anna verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen, weil sie vor Schlangen große Angst hatte. „Was willst du von mir?“, fragte sie erschrocken.

„Pst, pst, sollst Brot mit Milch mir geben,
sonst nehm ich dir statt dem dein Leben!“

– zischte ihr die Schlange zu. „Willst du Unglück in das Haus bringen? Ich bin doch die einzige Tochter meiner Eltern!“ Das Mädchen weinte jetzt schon, weil sie sich selbst doch auch ganz aufrichtig leidtat. „Nein, nein, pst, pst“, fing die Schlange an, streckte ihren Kopf durch die Spalte heraus und sagte:

„Du sollst mir nur zu essen geben,
dann gibt ‘s den Fluch nicht – bleibst am Leben!“

„Komm nur dort heraus! Dann können wir reden!“, rief das Mädchen jetzt auf einmal entschlossen. „Ah, du willst mir den Kopf zertreten, pst, pst…“, war die Antwort der Schlange, wie wenn sie die Gedanken der Anna hätte lesen können:

„Würdest mich auch gern zerreißen,
dann will ich dir in die Ferse beißen.
Mein Gift macht bleich gleich dein Gesicht
mich zu füttern, zöger nicht!“

Das zischte die Schlange gerade schon so laut, wie wenn draußen auf dem Hof ein großer Wind durch die Blätter vom Apfelbaum gepfiffen hätte.

Anna wusste nicht, was sie machen sollte, denn das Ungeziefer durfte man ja nicht füttern, so was musste man doch kaputtmachen. Sollte sie gerade so einer Schlange Brot und Milch geben? Was würden ihre Eltern sagen, wenn sie mittags, wenn sie nach Hause kommen, sehen, dass sie vom Brot abgeschnitten hat, und auch aus dem Milchgefäß etwas fehlt?

Aber da das Mädchen so jung doch noch nicht sterben wollte, ging sie halt darauf ein. „Na, du Schlange, hab keine Angst, komm heraus, ich hol ein Tellerchen, dann kriegst du deine Milch und auch Brot“, sagte sie zu ihr.

Nachdem sie von dem Brot etwas abgeschnitten und es in den Teller in die Milch eingebrockt hatte, lag die Schlange schon auf der Türschwelle. Sie war grasgrün, grellrot und himmelblau, in der Sonne glänzte sie prächtig. Ihre Farben waren kräftig und hell wie auf den schönsten Kaschmirtüchern, die es nur gab, sodass die Anna darüber sehr erstaunt war, dass bei ihnen so etwas Schönes unter der Türschwelle lebte. „Du bist sehr schön…“, sagte sie zu der Schlange aufrichtig und stellte ihr das Tellerchen hin.

Kaum hatte aber die Schlange ihren Mund geöffnet, streckte sie ihre spitze Zunge, die rosarot war und wie ein Gabelspieß aussah, heraus, und der Teller war auch schon leer, gerade wie ausgeschleckt.

„Du hast aber Hunger gehabt!“, sagte das Mädchen jetzt schon freundlich zu der Schlange. „Sag mir einmal, wie kann es aber sein, dass du reden kannst?“, wollte sie wissen, weil sie so etwas, dass ein Tier reden kann, noch nie im Leben erlebt hatte. Dann sagte die Schlange:

„Pst, pst, so gibt es in der Welt,
was Gott hat alles noch bestellt.
Die Antwort kannst du nicht verfehlen,
lass deine Mutter nur erzählen…“

 „Wie das?!“, fuhr Anna die Schlange auf einmal böse an, denn sie wollte es nicht glauben, dass ihr ihre Mutter gerade über die Hausschlange nichts gesagt hätte. Dann streckte sich die Schlange, hob den Kopf, züngelte und begann zu erzählen:

„Meine Art Schlange legt aus Gold
(wenn es ihr Menschen wissen wollt)
nicht im Sommer, weil im Mai,
nach hundert Jahren nur ein Ei.

Wird ein Haus auf ‘s Nest gebaut:
ein Fluch für Schlangen überhaupt!
Geschlüpft bin ich in dieser Schwelle,
ich bleiben muss hier auf der Stelle.

Und weil es gab Jahrhunderte, mehr,
das Sprechen wollt‘ ich lernen sehr.
Nach zwanzig Jahren knurrt mein Magen,
deine Mutter kann es dir wohl auch sagen.

Seit Urahnen bis nun zu dir
gleich geh ich auf den Platz von mir.
Gestern klein noch wie ein Wurm,
bin ich gleich groß jetzt wie ein Sturm!“

Kaum hatte die Schlange diese Wörter ausgesprochen, geschah etwas: Anna bemerkte, dass die Haut der Schlange aufriss! Von dem Kopf an platzte sie auf bis zu ihrem Schwanz. „Deine schöne Haut!...“, rief das Mädchen erschrocken und etwas traurig. „Ah, pst, pst!“, so die Schlange:

„Durch das Fressen aufgebaut,
ist wohl die Schmach für meine Haut.
Doch bin ich stets ganz neu darunter,
so hilf mir aus der Haut putzmunter!“

Das Mädchen traute sich aber nicht so richtig, eine Schlange anzufassen. Schon allein bei dem Gedanken bekam sie Schüttelfrost, was die Schlange auch bemerkte. So sagte sie zu Anna:

„In deiner Truhe beim Staffier,
wird meine Haut die schönste Zier.
In meiner Not kannst du mich laben,
als Dank sollst du die Haut dann haben!“

Da hätte aber kein Mädchen und auch keine Frau nein dazu sagen können, weil die Haut doch so wunder-wunderschön war. Und wer von den Mädchen im ganzen Dorf hatte schon so etwas in ihrer Lade liegen?

Dann nahm Anna die Hausschlange vorsichtig mit der linken Hand in der Mitte und löste mit der rechten Hand, vom Kopf angefangen, die alte Haut langsam ab, bis sie in einem Stück bei ihr war. Dann legte sie die Hausschlange wieder auf die Schwelle. Dort schien gerade die Sonne hin, und das Mädchen bemerkte, dass das der Schlange sehr wohltat.

3. Das Unheil 

Anna betrachtete die Haut noch eine Weile mit großer Freude und wollte sie gleich in ihrer Lade unter den Kopftüchern verstecken. Dann, als sie noch einmal nach der Schlange sah, erschrak sie sehr, weil nicht nur, dass ihre neue Haut noch viel schöner war als die alte, aber die Hausschlange war so viel gewachsen, dass sie sich ganz sicher nicht mehr durch die Spalte unter die Türschwelle zwingen konnte.

Da sagte Anna gleich der Schlange, sie könne bei ihnen nicht mehr zu Hause bleiben. Da war die Schlange aber äußerst erschrocken: „Wieso meinst du das?“, fragte sie. „Weil du nicht mehr durch die Spalte passt…“, war die Antwort.

Dann versuchte die Schlange sofort, sich durch die Spalte zu zwingen und zu pressen, aber sie schaffte es nicht, noch einmal unter die Türschwelle zu gelangen. Ganz leise, fast schon etwas traurig sagte sie dann zu dem Mädchen:

„Schlimme Sache – äußerst sehr,
ich kann nicht über Land und Meer,
von dieser Stelle kann ich nicht fort,
muss wohnen da, an diesem Ort.“

Anna schaute sie zuerst nur groß an, dann kam ihr aber ein Gedanke: „Du kannst vielleicht unter dem Brennholz auf dem Hinterhof leben!“,  meinte sie, weil ihr die Schlange jetzt bereits aufrichtig leidtat. So sehr, dass sie ihr irgendwie doch gerne geholfen hätte. Dann sagte die Schlange zu ihr:

„Das wäre schon möglich,
für mich einfach löblich.
Nur bin ich nicht eingesperrt,
so stark mich mein Magen zerrt!

Die Woche sind Hühner dran,
Enten, Gänse dann und wann.
Weg sind dann Schafe, Schwein und die Kuh,
euch schließt der Hunger die Augen zu…“

Jetzt war das Mädchen erst richtig erschrocken! „Hätte ich dich doch lieber gleich sofort zertreten, du widerspenstiges Ungeziefer! Dann wäre ich vielleicht gleich gestorben, aber meine Eltern könnten doch noch leben! … So müssen wir jetzt alle in Elend sterben…“, sagte Anna, und sie begann dabei ganz laut zu weinen, weil sie da keinen Ausweg mehr sah.

Wie sie dann so verzweifelt auf dem Gang saß, bemerkte sie auf einmal, dass sich die Schlange auf ihre Schürze schlängelte: „Was willst du?!“, fragte sie böse. „Das Unglück ist doch schon beisammen… Es ist doch so…“ – „Einen einzigen Ausweg gibt es doch noch, pst, pst…“, begann die Schlange zu sagen:

„Was mir nicht geht aus eigener Kraft,
das ist von dir gar leicht gemacht:
binde hoch jetzt deine Schürze,
dich nicht umsonst in Tränen stürze!
Die Sache leicht du überstehst,
wenn du mit mir vom Haus weggehst.“

Da war das Mädchen aber froh! Sie steckte die Schürze gleich hoch, damit die Schlange bequem Platz hatte, dann sagte sie: „Jetzt hol ich schnell die Schubkarre, denn es ist schon recht spät geworden, dann gehen wir zum Kroatengraben, ich hole die Brennnesseln für die Enten, und dich lasse ich dort los…“ Die Schlange schüttelte aber dabei nur den Kopf und meinte:

„Mich ohne Sorge dort zu lassen
würde uns grad‘ so erfassen:
der Fluch sitzt auf uns allen beiden,
wir werden tot sein, gleich den Steinen.“

„Was dann?“ fragte Anna verzweifelt, mit aufgerissenen Augen. Dann richtete sich die Hausschlange auf, sah dem Mädchen tief in die Augen und sagte:

„Unglück verwandele jetzt ins Glück,
trag mich in deinem Kleidungsstück,
durch den Wald und Kräuter, giftig,
sind alle ängstlich, du getrau dich,
zum Schlangenkönig, Herrn der Herren,
damit wir wieder glücklich werden!“

„Von einem Schlangenkönig habe ich noch nie etwas gehört“, gab das Mädchen aufrichtig und auch ein wenig erstaunt zu, und wollte wissen: „Wo ist er zu Hause?“ Dann hieß es von der Schlange:

„Über Tal und über Brücken,
wo sich Räuber auch verdrücken,
steht ein Schloss im Steinbruchswald,
dorthin musst jetzt mit Gewalt.
Denk nicht nach so lange hier,
zum Schlangenkönig müssen wir!“

 Jetzt war aber die Anna erst richtig verzweifelt! Weil sie immer wieder hörte, dass man in der ganzen Gegend nur dorthin nicht gehen dürfe, in den Steinbruchswald, weil man dann vielleicht auf einmal für immer weg ist.

Das Mädchen wusste es, sie durfte das ja ihren Eltern auf gar keinen Fall sagen, sie würden sie sicher nicht den Weg gehen lassen, weil sie eine zu große Angst um sie hätten. Die Schlange riet ihr aber, sie soll von ihrer abgeworfenen Haut ein Stückchen abschneiden und auf den Tisch legen, den anderen Teil soll sie gleich in ihrer Lade verstecken. Wenn dann ihre Mutter die Haut findet, wird sie sich daran erinnern, dass das von der Hausschlange ist, die sie, als sie selbst ein kleines Mädchen war, ja auch schon einmal gefüttert hatte. Dann wird auch ihre Verzweiflung nachlassen, da sie weiß, dass die Schlange gefüttert worden ist, sonst hätte sie ja ihre Haut nicht ausgezogen. Und weil es so kein Unglück gibt, wird sie ihre Ruhe schon finden.

Nun, so machten sie es auch. Die Anna schnitt mit der Schere ein kleines Stück von der Haut ab und legte es auf den Tisch, das andere Stück Schlangenleder versteckte sie aber in ihrer Staffiertruhe unter den Kaschmirtüchern.

4. Die Anna ist weg 

Als dann die Glocken Mittag läuteten, kamen die Leute vom Feld und vom Weinberg auch schon heimwärts. Unterwegs führten sie noch ein Gespräch, sonst waren sie, wenn sie auch müde waren, froh, dass sie in ihrer Arbeit weitergekommen sind.

Ein echtes Fertigwerden hat es ja nicht gegeben, denn wenn man in der Reihe bis zum Ende gehackt hat, hat sich am anderen Ende das Gras bereits wieder geregt, und es begann zu wachsen. Das Leben war halt so: Man war in dem Kreislauf drin, in dem die Arbeit wohl ein Muss war, aber ganz gewiss keine Schande. Es hatte halt alles seinen Lauf, und keiner wehrte sich dagegen.

Als Annas Eltern in den Hof einbogen, sahen sie schon, dass da etwas nicht stimmte, da die Hühner laut herumgackerten und die Enten und die jungen Gänse weinten, weil sie kein Wasser hatten. Selbst der Nero lag nur vor seinem Häuschen und hatte seine Vorderpfote traurig über die Schnauze gelegt. Sonst war der Hund doch immer so glücklich, wenn seine Herren heimkamen. Da war etwas sicher nicht in Ordnung!

Vater und Mutter ließen Hacke und Harke fallen, legten Tornister und Bündel in den Gang und begannen laut nach ihrer Tochter zu rufen. Überall sahen sie nach ihr und riefen dabei nur „Anna! Anna!“, aber es gab keine Antwort.

„Die war nicht bei dem Kroatengraben, um Brennnesseln zu holen“, meinte der Vater nach einiger Zeit, „und jetzt versteckt sie sich, weil sie Angst vor den Hieben hat!“

Die Mutter wollte das aber nicht glauben, weil die Anna doch so ein braves Mädchen war, und auch fleißig, so antwortete sie mit zitternder Stimme nur soviel: „Glaub mir Joseph, da ist sonst etwas los…“

Sie liefen dann, die eine links, der andere rechts, von einem Haus zum anderen und fragten alle Leute, ob sie die Anna gesehen hätten. Aber alle zuckten nur mit der Schulter und schüttelten den Kopf, weil sie nicht wussten, wo das Mädchen sein konnte.

Dann trafen sie nach einer Zeit den Toni-Vetter, der bereits so sehr alt war, dass seine Haare ganz grau waren; er ging auch nicht mehr auf das Feld mit, er richtete nur noch dies und das um das Haus herum. Er wollte gesehen haben, dass die Anna auf dem Gehweg in Richtung Kroatengraben unterwegs war, in den Hohlweg hinein. „Nein, eine Schubkarre hat sie gewiss nicht dabeigehabt, nur ihre Schürze war hochgebunden, dort war etwas drin. Nur den Kopf hat sie hängen lassen, sie hat einem nicht einmal gegrüßt… So etwas macht eure Tochter sonst nicht“, sagte der Mann und stolperte wieder zurück zu seinem Häuschen.

Jetzt liefen aber Annas Eltern gleich in den Hohlweg hinein und blieben dabei immer wieder stehen, riefen „Anna! Anna!“, sahen sich verzweifelt um, spitzten die Ohren, liefen dann wieder weiter, sodass sie bald keine Luft mehr bekamen. Dann waren sie aber auch schon bei dem Kroatengraben – und nichts… Keine einzige Spur von Anna. 

Als sie dann den Steinbruchswald erreichten, in den nicht einmal ein Weg hineinführt, legte Joseph seinen Arm um die Schulter seiner Frau und sagte ganz leise zu ihr: „Komm, Marie, du siehst ja, die Anna ist nicht da. Komm, sie ist vielleicht inzwischen schon wieder daheim. Sie wird uns schon erzählen, was vorgefallen ist…“

Sie blieben vor dem Wald, unter den dunklen Bäumen ein wenig stehen, deren Blätter so kräftig waren, dass sie statt grün fast schon schwarz aussahen. Aber nach einer Weile gingen sie dann doch langsam und ganz traurig heimwärts.

Die Marie verwischte ihre Tränen mit ihrem Kopftuchzipfel, der Joseph umarmte sie und hat sie mehr getragen als an dem Arm geführt. Unterwegs unterhielten sie sich nicht mehr, erst als sie wieder zu Hause ankamen, schöpften sie wieder etwas Hoffnung und riefen mit schwacher Stimme zweimal-dreimal noch „Anna, Anna…“, aber es kam auch diesmal keine Antwort.

„Komm, setz dich, Marie…“, sagte Joseph in der Küche zu seiner Frau und stellte ihr einen Stuhl hin. „Sie wird schon wieder heimkommen…“, sagte er, aber seine Stimme war schwach wie seine Hoffnung. Seine Frau sah ihm tief in die Augen und rief, schon einem Schrei gleich, etwas zornig, aber auch verzweifelt: „Das ist doch nicht möglich, das kann doch nicht sein! … Unsere einzige Tochter, Joseph!“

5. Es dämmert 

Draußen wurde schon bald dunkel, die Weinhähnchen begannen „Brüh, brüh“ zu singen, dann sah Marie auf einmal, als sie sich umblickte, auf dem Tisch etwas glänzen! Schnell griff sie danach, wurde dann bleich wie eine Wachspuppe und konnte nicht einmal etwas sagen, sie starrte nur, ohne zu blinzeln, auf das Stückchen Haut, das sie in ihrer Hand hielt.

„Was schaust so, Marie?“, fragte ihr Mann erschrocken. „Was ist das in deiner Hand, das so hell glänzt?“ Sie erwiderte: „Na, Joseph, so etwas habe ich aber schon sehr lange nicht mehr in der Hand gehalten… Da war ich erst so alt wie unsere Anna jetzt, so um die zehn-zwölf Jahre. Ich habe es bereits fast vergessen, dass es so etwas gibt… Das habe ich auch gehabt… Ich habe es auch noch! Das ist eine abgeworfene Haut von unserer Hausschlange… Ich habe meine eingenäht in meine Sonntagshaube.“

„Was sagst du, Weib? Eine Hausschlange?! So etwas gibt es doch nicht! Hat dir das mit unserer Anna den Verstand genommen?“, fragte Joseph, aber das Stück Schlangenhaut verwunderte ihn auch, denn solche Farben hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Er wusste nicht, wie er die Geschichte einordnen sollte, aber als seine Frau zu ihm sagte: „Glaube mir, es wird alles wieder gut, die Anna wird schon wieder gesund heimkommen, sie passen schon gut aufeinander auf!“, schöpfte er selber ein wenig Hoffnung, selbst wenn er von dem Ganzen nicht viel verstand.

6. Von zu Hause in den Wald hinein 

Anna nahm sich vor, auf dem Weg nicht zurückzublicken. Ihr Herz war ja bereits schwer genug, wie hätte sie es dann ertragen können, wenn sie von den Steinbruchsparzellen her gerade bis zu ihrem Haus hätte zurückschauen können, und dann vielleicht auch noch gesehen hätte, wie ihre Eltern verzweifelt auf und ab rannten, um sie zu suchen, aber sie nicht finden konnten? Vielleicht hätte sie auch noch hören können, wie sie „Anna! Anna!“ rufen…

Das hätte sie nicht verkraftet, dann wäre sie sicher bis nach Hause gelaufen – und wenn es wahr war, was die Hausschlange sagte, dann wäre sie aber an der Türschwelle tot zusammengefallen, und mit der Schlange wäre es ebenfalls aus gewesen. So nahm sie sich vor, dass, was auch immer passieren mag, sie durchhalten und alles bis zum Ende mitmachen würde. „Was sein soll, soll halt passieren…“, dachte sie bei sich.

Als sie aber den Wald betrat, kam ein Wirbelsturm auf, der durch die Blätter pfiff, wie wenn die Bäume riefen:

„Hoo-haa, die Anna ist da!
Ei-hei, die Schlange dabei!“

Als sie sich durch die Schlehdornhecken zwang, die um den ganzen Wald wuchsen, wie wenn sie eine Mauer sein sollten, damit sich kein einziger Mensch weiter hineintraut, wurde auf einmal wieder alles still.

Anna schaute sich um und staunte, dass es so nahe von daheim eine andere Welt gab: Den Kopf konnte sie fast nicht so hoch heben, dass sie hätte bis zu den Baumspitzen sehen können, wo, wenn auch kein Sonnenschein, aber doch etwas Licht durchkam. Es war, als hätte es gerade Nacht werden wollen, wo es doch vielleicht erst vor einer halben Stunde Mittag geläutet hatte.

Eines gefiel Anna ganz gut: Auf der Erde lag das Laub bis zum Knie. Wenn sie dann einen Schritt machte, war das wie in dem Schnee im Winter, aber halt nicht kalt, und wenn sie darin herumsprang, raschelte es, und wenn sie auf einen Ast trat, krachte es noch dazu, was ihr lustig vorkam und äußerst gut gefiel.

Die Luft war rein und roch gut, und Anna hatte schon fast ihre schwere Not vergessen. Sie schaute in die Baumkrone hinauf, breitete die Arme aus, drehte sich und tänzelte herum.

7. Die Eule 

Auf einmal hörte sie eine Stimme: „Wohin, wohin? Wohin, wohin?“, hieß es. Weil die Stimme aber gar nicht furchterregend klang, sondern sogar ein wenig freundlich, erschrak das Mädchen nur ein ganz kleines bisschen und hatte keine richtige Angst.

Sie merkte aber, dass sich jetzt auch die Schlange regte und ihren Kopf aus der Schürze herausstreckte. „Ist da jemand? Guten Tag!“, sagte Anna unsicher, weil sie niemanden um sich herum sah. Auf einmal hieß es dann:

„Kommst da herein mit festem Schritt,
und meinst, der Schreck sei weg im Schnitt?
Besser, wenn du frech nicht nickst,
sondern zu mir nach oben blickst!“

Als sich die Anna dann im Geäst umsah, entdeckte sie eine Eule, die sich ganz aufgeblasen hatte, dass ihr Gefieder in alle Richtungen nur so starrte. Mit ihren großen Augen blinzelte sie dabei, wie wenn sie erst jetzt erwacht wäre.

„Ach, du bist das? Warum willst du das wissen, wohin ich will?“, fragte das Mädchen den Vogel etwas verdrossen.

„Wohin, wohin, das will ich wissen,
darf ja niemanden vermissen.
Ich bin der Wächter von dem Wald,
wo du hingehst, sag mir bald!“

– war jetzt die Antwort.

Das Mädchen erzählte dann der Eule alles, was mit ihr und mit ihrer Hausschlange vorgefallen war, und sie zeigte ihr auch die Schlange in ihrer Schürze. Dann blickte sie dem Vogel tief in die Augen und bat ihn mit weinerlicher Stimme:

„Lieber Kauz, so lass uns gehen,
du kannst doch unsre Sorge sehen!
Wir wollen zu dem Schlangenkönig,
Hoffnung bleibt uns eh so wenig.
Er kann uns noch die Freiheit geben,
damit wir bleiben dann am Leben.“

Neben der Schlange erkannte aber die Eule auch noch ein Stück Brot in der Schürze, das sich die Anna zu Hause auf den Weg eingepackt hatte, und sie sagte zu dem Mädchen:

„Der Wald hier ist ein Landeskreis,
so hat der Durchgang seinen Preis:
gebt mir gleich ein Stück vom Brot,
dann habt ihr weiter keine Not.“

Anna überlegte kurz, dann brach sie ein kleines Stück vom Brot ab und reichte es dem Vogel. Dieser verschlang es gleich in einem einzigen Stück und blinzelte eins dazu, sagte aber nichts mehr, sondern zeigte nur mit seinem rechten Flügel, wo sie weitergehen sollen, immer weiter nur in den Wald hinein.

Kaum hatten sie sich ein paar Schritte entfernt, streckte die Schlange den Kopf aus der Schürze und sagte:

„Das Brot muss halten, Anna, lieb,
es kommt ja noch ein schlimmer Dieb.
Doch essen sollst davon auch du,
was fehlt, das wächst ja gleich dazu!“

In diesem Augenblick war das Brotstück dann wieder ganz, sodass die Anna auch noch davon essen konnte, bis sie satt war, und es blieb immer noch ein schönes Stück übrig. Dann gingen sie weiter.

8. Die Eidechse 

Wie schon gesagt, es gab im ganzen Wald keinen einzigen Weg. Hie und da kam es einem zwar so vor, wie wenn einmal bereits jemand dort entlanggegangen wäre, dann hörte aber die Spur bald auf. So geschah es manchmal, dass Anna beinahe eine falsche Richtung eingeschlagen hätte. Dann kam von weit her eine schwache Stimme, die sagte:

„Wohin, wohin?
Andernorts führt es dahin!“

Das hörte sie solange, bis sie wieder den richtigen Weg fanden. Auf diese Weise half ihnen die Eule, damit sie nicht im Wald verendeten.

Sonst war der Weg nicht so schwer, Anna war ja das Zufußgehen von klein auf gewohnt, es machte ihr nicht viel aus. Nur das Alleinsein, das fiel ihr nicht leicht. Wenn ihre Eltern manchmal nicht zu Hause waren, wusste sie, dass sie in der Nachbarschaft jemanden finden konnte, falls sie etwas brauchte oder wenn es ein Problem gab. Aber da? Da war sie auf sich alleine gestellt, da musste sie selber entscheiden, sie wusste auch, dass sie ganz umsonst um Hilfe rufen würde, da würde kein Mensch kommen, sondern vielleicht ein wildes Tier zum Verderben oder zum Sterben herausspringen.

So ging sie, so leise wie sie nur konnte, weiter und hielt immer die Ohren offen, ob die Eule gerade die Richtung angab.

Anna meinte, dass die Schlange schlief, denn sie meldete sich die ganze Zeit nicht. Sie sagte nichts und regte sich auch nicht. Damit war das Mädchen auch zufrieden, weil sie so wenigstens alles gründlich überlegen konnte, was sie gerade betraf. Am meisten überraschte sie eigentlich, dass sie viel tapferer war, als sie es über sich selbst gedacht hätte.

Schon das, dass sie von zu Hause alleine weggegangen war. Und dass sie sich auch noch in den Steinbruchswald getraut hatte. Wer sonst noch aus dem Dorf würde ihr das nachmachen? Überhaupt von den anderen Mädchen! Die kämmen sich doch nicht einmal die Haare selber! Da brauchen sie schon eine Hilfe dazu. „Die Not bringt einem das Meiste bei. Dann kommt man drauf, was man auch kann, dann weiß man, wer man auch ist…“,  dachte Anna bei sich, und sie war bei diesen Gedanken auch noch ein wenig stolz auf sich.

Auf einmal ging es dann steil hinunter, und gleich danach plötzlich hinauf, sodass sie sich einen Stock suchen musste, mit dem es doch leichter war hinaufzuklettern. Auf dem Hügel oben bemerkte sie, dass sie bei dem Steinbruch angekommen war. Dieser tat sich vor ihren Füßen ganz tief auf, es hätte ja nicht einmal der Kirchturm herausgeschaut, und in den Steinbruch hätte das halbe Dorf auch noch bequem hineingepasst. Anna wurde es ganz schwindlig, und so überlegte sie auch nicht weiter.

Der Wald war um den Steinbruch drum herum bis an den Rand gewachsen, manche Bäume hielten sich nur mit ihren Wurzeln fest und ragten auch noch ein wenig schief in die Luft, man hätte gar meinen können, dass sie jeden Moment mit lautem Krach und Krawall losbrechen und in die Schlucht stürzen würden. Über dem Steinbruch bemerkte Anna, dass der Tag schon zu Neige ging, es war vielleicht schon so um sechs Uhr rum. 

Als sie das gerade überlegte, bemerkte sie, dass etwas im Gras raschelte. Wie sie hinschaute, sah sie, dass es eine Eidechse war. Nur halt gar nicht so eine, wie sie in ihrem bisherigen Leben bereits manche gesehen hatte: Sie war braun, aber von dem Kopf bis zu der Schwanzspitze grünblau, und von den Augen bis zu den Ohren verlief ein roter Streifen.

Aber nicht alleine das war an ihr so verwunderlich, denn die Eidechse war so groß, dass sie der Anna fast bis zum Knie reichte, und sie war an die fünf bis sechs Schritte lang. Noch bevor das Mädchen hätte so richtig Angst bekommen können, stellte sich die Eidechse auf die Hinterbeine, dass sie fast so groß war wie Anna selbst. Sie streckte ein paarmal schnell die Zunge raus, dann fragte sie plötzlich:

„Pist, bist! Alleine bist du oder nicht?
Fällt für mich das ins Gewicht?“

„Alleine nicht, wir sind zu zweit…“, begann Anna gleich zu sagen, aber die Eidechse hörte ihr gar nicht zu, sondern sprach, ohne aufzuhören, weiter:

„Wenn auf der Brücke wärst alleine,
setzt du auf sie da keine Beine.“

Die Anna blickte um sich, dann erst bemerkte sie, dass der Weg hinter der Eidechse über eine Brücke weiterging. Sie führte über eine Schlucht, durch die ganz tief unten ein kleiner Bach floss. Die Brücke war sonst nichts als ein dicker Baum, der wohl vor vielen Jahren schon bei einem großen Sturm umgestürzt und so liegengeblieben war, dass man über seinen Stamm gemütlich hinüberlaufen konnte, aber selbst ein Pferdewagen wäre ganz sicher hinübergekommen.

Da sie aber nicht zu Wort kam, band Anna das Schurzzipfelchen los und gab mit ihrem Kopf ein Zeichen, dass die Eidechse doch hinschaut, was sie dabei hat. Jene sagte dann flott:

„Pist, bist schlau! Gewähr mir einen Blick hinein!
Bei dir kann sein ein Edelstein!“

Aber als die Eidechse sah, was in der Schürze war, war sie so sehr verwundert, dass sie kaum ein Wort mehr herausbrachte. Die Schlange blinzelte aber der Eidechse mit ihren schwarzen Augen zu, als hätte sie sie gerade angelächelt.

Die Eidechse ließ sich dann die Geschichte erzählen, wieso sie durch den Wald liefen, wo sich sonst doch kein Mensch hereintraute, und schließlich sagte sie zu der Hausschlange:

„Echse, Echse, ohne Fuß,
etwas ich dir sagen muss:
deine Haut hat mir gar gut gefallen,
den Weg sollst du halt weiterwallen.

Der Brücke nach, am Stein vorbei,
kommt gut an, und werdet frei!
Aber: der Durchgang, der wird hier verzollt,
so etwas ihr mir geben sollt!“

So brach Anna jetzt wieder ein schönes Stück von dem Brot ab, das die Eidechse mit einem einzigen Schluck verschlang. Dann sprang sie ins Gras und verschwand vor ihren Augen.

Nun streckte aber die Schlange den Kopf wieder aus der Schürze und sagte:

„Das Brot muss halten, Anna, lieb,
es kommt ja noch ein schlimmer Dieb.
Doch essen sollst davon auch du,
was fehlt, das wächst ja gleich dazu!“

Im selben Augenblick war das Brotstück dann wieder ganz, sodass sich die Anna auch noch davon satt essen konnte, und es blieb auch noch etwas übrig. Dann gingen sie über die Brücke.

9. Milosch und seine Räuberbande 

Es wurde auf einmal dunkel. Anna überlegte eine Weile, ob sie sich nicht nach einem Platz umschauen sollte, um sich hinzulegen und zu schlafen, sie war ja schon sehr müde. Aber schon allein der Gedanke, unter freiem Himmel im Wald zu übernachten, machte ihr so große Angst, dass ihr das Herz fast aus der Brust sprang.

So tastete sie sich doch weiter, obwohl es immer mühsamer ging, weil die Hecken nach ihr griffen. Hie und da stolperte sie auch, und einmal fiel sie sogar hin.

Als sie sich aufrichtete und in ihrer Schürze nachfühlte, ob sie die Hausschlange noch dabei hatte, merkte sie einerseits, dass diese ruhig schlief, aber es kam ihr dann auf einmal so vor, als ob ganz weit weg ein Licht brennen würde.

Anna wusste da nicht so richtig weiter: „Was ist dann, wenn ich hingehe und dort auf böse Menschen treffe? Wer weiß, was sie mit einem machen würden…“, dachte sie bei sich, aber von weit her hörte sie die schwache Stimme der Eidechse:

„Pist, pist!
Euren Weg ihr so erkennt,
wenn vor euch hell ein Feuer brennt.“

So ging Anna weiter. Es wurde dabei stockdunkel, man sah keinen Stern am Himmel und auch keinen Mond, aber wie das Mädchen dem Feuer näher und näher kam, wurde es um sie heller und heller. Bald vernahm sie auch schon Stimmen, es sangen und jauchzten Männer. Es hörte sich lustig an, wie wenn es eine Hochzeit gewesen wäre oder ein Traubenball, nur dass dabei keine einzige Frauenstimme zu hören war.

Dann, als die Anna schon die Leute um das Feuer erblickte, und auch das Häuschen, wo daneben auf dem Hof nur ein einziger Eichenbaum inmitten einer Wiese stand, weil sonst der Wald rundherum gerodet war, da überlegte sie, gar nicht näher zu gehen, da sie die Wärme eh schon auf ihrer Haut spürte. Und wo ein Feuer brennt, dachte sie, dort traut sich ja kein Wolf hin, da kann man sich in der Nähe hinlegen. Sie schläft sich dann aus, in aller Herrgottsfrühe geht sie dann ihren Weg weiter, noch bevor die Leute erwachen…

Ihre Gedanken konnte sie aber nicht zu Ende denken, denn auf einmal packten zwei tüchtige, bärtige Männer sie mit rauen Händen und brachten sie, ohne nur ein einziges Wort zu ihr zu sagen, zu dem Feuer.

Dann erst bemerkte das Mädchen, dass die Männer alle eine Flinte, Säbel und krumme Messer dabeihatten, und da wurde ihr klar, dass es die Räuber sein mussten… „Jessus Gott, jetzt ist alles rum…“, dachte sie verzweifelt, bekreuzigte sich und wollte noch schnell ein Vaterunser beten. Aber da stand sie bereits vor dem Räuberhauptmann, der sie groß anschaute. 

Er stand von dem Holzstumpf, auf dem er hockte, auf, schlich zweimal-dreimal um Anna herum, bückte sich und fragte dann Anna von so nah, dass das Mädchen schon den Geruch von Schnaps, Wein und Knoblauch in der Nase spürte, laut: „Weißt du, wer ich bin?“ „Ich denke, du bist der Räuber Milosch… und du wirst mich gleich umbringen…“, stotterte das Mädchen. Bei diesen Worten musste aber nicht nur der Milosch lachen, sondern auch all seine Leute – und sogar so laut, dass es im Wald nur so schallte.

„So, so…“, meinte Milosch nach einer Weile, während er Anna noch immer von allen Seiten musterte. Dann zeigte er auf einmal mit seinem Säbel auf Annas Schürze und sagte: „Binde deine Schürze ab, ich will einmal sehen, was du darin versteckst!“

Anna tat das sogleich, weil sie dachte, jetzt, wo eh schon alles egal ist, sei der Hausschlange damit auch nicht mehr geholfen, wenn sie sie weiter versteckte, die müsse ja ebenfalls sterben, da sie von hier zu dem Schlangenkönig bestimmt nicht mehr weiterkommen würden.

So nahm sie die Schürze ab und übergab sie wie ein Bündel dem Milosch. Der Räuber faltete die Zipfel auseinander, und es war ihm anzusehen, dass er sich sehr wunderte. Neugierig, wie sie alle waren, scharten sich auch alle anderen Räuber um ihn, um selber zu sehen, was in der Schürze steckte.

„Huch!“, schrie dann Milosch so laut, dass seine Leute um ihn herum vor Angst und Schreck regelrecht auseinanderpurzelten. „Haha, haha!“, lachte der Räuberhäuptling vor Freude und Gier, griff in die Schürze und hielt die Schlange mit einem Ruck über seinen Kopf. Diese glänzte im Licht des Feuers, als wäre sie ein Gehstock aus Gold und lauter Edelsteinen.

Anna war aber richtig erstaunt, da sie bald bemerkte, dass sich die Hausschlange nur tot stellte und in den Händen des Räubers kalt und fest geworden war wie Eisen, sodass der Milosch dachte, er hätte einen großen Schatz gefunden. Im hellen Licht kam es dem Mädchen gar so vor, wie wenn die Schlange bei diesem Spektakel auch noch gelacht und ihre Augen verdreht hätte.

Aber dann steckte der Milosch die Schlange wieder in die Schürze und nahm langsam das Brot heraus und hielt es sich vor die Augen wie einen Schatz, den er schon lange nicht mehr gesehen hat.

Mit leiser Stimme sprach er dann nur so vor sich hin, dass es kaum jemand außer Anna hören konnte:

„Geraubt hab‘ ich viel Geld und Gold,
dabei ich Brot nur essen wollt‘.“

Mit diesen Worten verschlang er das ganze Brot in einem einzigen Stück. Dann sagte er zu Anna: „Morgen schauen wir, ob du auch Brot backen kannst, dann lasse ich dich am Leben.“ Dann rief er zum Schluss: „Besoffene Bande, ins Bett mit euch allen!“

Anna ließ er aber in die Sommerküche einsperren, und die Schürze mit der Schlange nahm er in seine Schlafkammer mit. Wie jeden Abend schloss er die Tür von innen fest ab. 

10. Der Paul

Die Sommerküche hatte nur ein einziges kleines Fensterchen, wo von außen auch noch ein Gitter dran war, dass man hätte meinen können, es sei ein Gefängnis.

Durch das Fenster konnte Anna gerade auf das Feuer blicken, an dem die Räuber bald darauf einschliefen. Ihre Wachtposten, die die Anna erwischt hatten, waren ebenfalls darunter, sie schnarchten am lautesten.

Auf einmal bemerkte Anna einen Jungen unter den Räubern. Dieser schlief noch nicht, er saß am Feuer und blickte immer nur zum Fenster der Sommerküche.

Nach einer Weile, als ihm die Glut das Gesicht beleuchtete, kam der Junge Anna sehr bekannt vor. Die Schneiders in der dritten Nachbarschaft von ihnen, der Hansi-Vetter und seine Frau, die Resi, die hatten doch einen Sohn, der ein Jahr zuvor auf einmal weg war. Er war um zwei Jahre älter als sie. Aber wie könnte das nur der Paul sein?

Als dann auch der letzte Räuber schon fest schlief, hockte sich Anna neben dem Backofen in die Ecke und machte sich Gedanken wegen dem Brotbacken. Denn zugeschaut hatte sie schon manchmal, wie ihre Mutter das Brot ansetzte. Wo würde sie aber hier Sauerteig hernehmen? Wie soll sie es nur versuchen? Das wird ganz sicher nicht gehen…

Und ein Feuer im Backofen hatte sie in ihrem Leben auch noch nie alleine gemacht. Vielleicht gab es hier nicht einmal einen Backschießer…

Als sie bei diesen Gedanken schon fast am Einschlafen war, hörte sie den Schlüssel, den der Milosch beim Einsperren von außen hatte stecken lassen, im Schloss krächzen, und die Tür ging ganz langsam auf. „Jetzt ist es aber aus mit mir, sie holen mich…“, dachte sich das Mädchen, und sie machte ihre Augen ganz fest zu.

„Du bist doch die Anna aus unserer Gasse zu Hause, nicht wahr?“, hörte sie aber eine freundliche Stimme aus der Nähe. „Paul? Bist du das?“, fragte das Mädchen, vor Freude fast schon zu laut. Am liebsten wäre sie dem Jungen um den Hals gefallen.

„Nur leise!“, sagte aber dieser. „Sie sind alle besoffen, man kann aber doch nicht wissen… Was suchst du da, wo kein Mensch, der sein Leben gerne hat, sich hertraut?“ Dann erzählte Anna ihm schnell alles, was passiert war, aber sie fragte auch gleich danach, wie Paul gerade hierher, zu den Räubern, gekommen war.

 „Ja, wir waren mit den Jungs aus dem Dorf halt neugierig, dann wollten wir uns in dem Steinbruchswald umschauen. Als der Wind so stark geblasen hat, sind die anderen gleich durch die Hecke geschlüpft, und – ich denke – bis nach Hause gelaufen. Als dann die Eule zu mir gesprochen hat, bin ich so erschrocken, dass ich in den Wald hineingelaufen bin, bis ich mich verirrt habe. Dann bin ich über die Brücke von der Eidechse gegangen, ich habe es nicht einmal beachtet, was sie mir sagen wollte. Die Räuber haben mich dann auch gefangen wie dich, sie haben mich aber behalten, damit ich ihnen die Pferde striegeln soll.“ Anna staunte nur und staunte, war aber glücklich, sie konnte unserem Herrgott nicht genug danken. Dann sagte aber der Paul: „Komm, Anna, gehen wir davon, du kennst den Weg, wir finden nach Hause.“

Anna erzählte aber dem Paul, dass sie unbedingt zu dem Schlangenkönig müssten, weil sie, Anna und die Hausschlange, sonst beide sterben würden. Daraufhin sagte der Junge: „Gut, dann schauen wir halt, was deine Schlange bei dem Milosch macht, dann gehen wir alle drei davon.“

Anna freute sich, wollte aber nicht glauben, dass sie die Schlange aus der Stube von dem Milosch würden befreien können. Als sie dann leise vor der Tür von Milosch standen, musste die Schlange drinnen doch etwas gehört haben, weil sie zischte, und danach hieß es:

„Gedacht hab‘ ich, ich wär‘ vergessen,
mit allen uns’ren Interessen,
dass wir leben und nicht sterben,
dass wir müssen nicht verderben.“

Dann schnellte die Schlange hinter der Tür hoch, erwischte mit ihrem Maul den Schlüssel, schwang sich zweimal in der Luft herum, und der Schlüssel drehte sich, die Tür war offen!

Der Milosch lag quer in seinem Bett, er hatte nicht einmal seinen Mantel ausgezogen, sogar die Stiefel trug er noch an den Füßen. Und er schnarchte, dass der Vorhang nur so wackelte.

Als sich die Kinder von der Türschwelle umschauten, sahen sie, dass um das Bett herum Gold und Edelsteine herumlagen, der Farbe nach in Haufen sortiert. Draußen war das Feuer fast schon ausgegangen, in der Stube von Milosch funkelte und glänzte aber alles! Dann sagte die Schlange zu Anna und Paul, denen der Mund offen geblieben war vor lauter Staunen, sodass sie nur verlegen herumstanden:

„Schaut nicht, Kinder, wie die nicht dürfen
knöcheltief in Gold hier schlürfen!
Füllt Geldsack und die Taschen voll,
der Teufel soll den Milosch hol‘!
Lasst in der Schürze meinen Platz,
sonst sammelt ein den großen Schatz!“

Paul und Anna gingen dann hin, stopften Bluse und Hosentaschen mit den goldenen Talern voll, dann legte sich Anna die Schürze um, ließ die Schlange hineinschlüpfen und dann band sie die Schürze wieder hoch.

Paul sperrte dann noch die Tür von Milosch von außen zu und schmiss den Schlüssel in die Glut.

Dann gingen sie in der dunklen Nacht über den Hof, wo alle Räuber tief schliefen und ohrenbetäubend schnarchten. Nur hinein in den Wald, nur weg von dort!

11. Auf der Flucht 

Sie rannten, dass ihnen die Lungen fast abrissen, nur wussten sie nicht, in welche Richtung es weitergehen soll, da sie den Weg zu dem Schlangenkönig nicht kannten. Dann regte sich aber die Hausschlange und streckte den Kopf heraus. Sie zischte „Pst, Pst…“, und dann hieß es:

„Jetzt zieht ‘s mich hin, jetzt zieht ‘s mich her,
wie wenn der König bei mir wär‘.“

Dann sagte ihnen die Schlange, welche Richtung sie einschlagen sollen: links, rechts oder gerade aus.

Als es schon bald hell wurde, hörten sie von weit her rufen:

„Weiter, weiter, schnell und schlau
bis zur Donau dich getrau!
Tausend Täler, hundert Brücken:
vor Milosch kannst dich nicht verdrücken!“

Denn das war so: Als die beiden Kinder mit der Hausschlage in den Wald liefen, begannen sich die Taler in Milosch’ Stube aneinanderzureiben, was dann etwa so klang:

„Milosch, Milosch, Klingelbein:
ein Räuber müsste wachsam sein!
Hundert Taler sind dir gestohlen,
sie wird niemand zurück mehr holen!“

Solang, solang, bis der Milosch sich streckte und reckte und schließlich auch erwachte. Als er sich dann umschaute, bemerkte er, was vorgefallen war, dann packte ihn aber die Wut, dass er schrie wie ein Löwe und mit seinen bloßen Händen seinen Säbel in kleine Stücke zerbrach.

Dieser Lärm riss aber die ganze Räuberbande aus dem Schlaf! Sie suchten und suchten so lange, bis sie den Schlüssel in der Asche fanden, dann schlossen sie die Stubentür von dem Milosch auf.

Er tobte und schlug so wild um sich, dass sich all seine Männer versteckten. Schließlich erteilte der Milosch aber einen Befehl und schrie seine Bande an:

„Selbst wenn ich muss zur Hölle reiten,
sie machen sich nicht in die Weiten!
Holt die Säbel, holt die Pferde,
es versteckt sie nicht die Erde!“

Da war nichts zu machen, sie ließen keinen einzigen Räuber zurück, selbst diejenigen, die keine Zähne mehr zum Beißen hatten, mussten dem Milosch noch hinterher. So eine Schande, dass gerade ein Räuber bestohlen wurde, konnten sie doch nicht auf sich beruhen lassen!

So ritten sie dann mit großem Lärm den Kindern nach und schauten dabei immer nach den Fußspuren. Bald sahen sie die beiden von weitem, wie sie vor ihnen fliehen wollten. Dann sprangen sie von den Pferden und liefen mit ihren Säbeln in der Hand zu Fuß hinterher.

12. Der Schlangenkönig  

Anna und Paul steckte das Herz im Hals, sie liefen, so schnell sie die Beine trugen, aber das alles half nichts, weil die Räuber schneller waren als sie, und schon bald waren sie ihnen auf den Fersen. Die Kinder dachten, jetzt wäre es aus mit ihnen. Dann hörten sie auf einmal, wie wenn der Himmel donnerte:

„Der König bin ich,
so lasst mir die Ruhe!
Ihr ärgert mich,
bis Ordnung ich tue!“

In diesem Augenblick, als wäre er aus dem Nichts gekommen, stand der Schlangenkönig vor ihnen, gerade in dem Moment, als der Milosch schon nach den beiden Kindern greifen wollte, um sie zu fangen.

Der Schlangenkönig hatte eine Krone aus purem Gold auf dem Kopf, mit einem einzigen grünen Stein in der Mitte, so groß wie ein Erbsenkern, und der glänzte so sehr, dass man nicht einmal hinschauen konnte.

Der Milosch dachte: „Jetzt hol ich meine Taler zurück, aber die Krone gehört auch noch mir!“ Er sagte:

„Geh weg, du Schlange, mein Weg hier durchführt,
schneid ich dich ab, so es dir gebührt!“

Der Räuber Milosch zog auch gleich sein krummes Messer, seine ganze Bande fletschte auch die Zähne, alle fluchten und tobten, dass der Wald erschallte dabei. Der Schlangenkönig erschrak aber nicht einmal ein bisschen, sondern riet ihnen streng:

„Geht jetzt nach Hause
dann bleibt ihr am Leben.
Verschwindet mit Sause,
dann kann ich ‘s noch geben!“

Wenn das überhaupt noch möglich ist, mussten die Räuber über diese Worte noch mehr lachen, es liefen ihnen die Tränen bis zum Bart hinunter, so lustig fanden sie es, weil sie sich ja selber so unheimlich stark vorkamen. Der Milosch wurde aber noch zorniger und schrie den Schlangenkönig höhnisch an:

„Du bist doch, du Kröte, nicht hartgesotten,
meinst du vielleicht, du kannst mich verspotten?
Der Räuber Milosch, der wird dich gleich laben:
gib her deine Krone, die will ich jetzt haben!“

Als er dann dem Schlangenkönig die Krone vom Kopf reißen wollte, richtete sich dieser auf, sodass er dem Milosch auf den verzottelten Kopf sah, streckte seine spitze Zunge, die rot war wie Glut, heraus und züngelte ganz laut: „Pst, pst!“, dass alle Räuber erschraken und sofort ihren Mund hielten. Dann sprach er streng zu ihnen:

„So redet ihr nicht mit einem König,
so etwas ist schon gar nicht gehörig!
Von hier kommt ihr nicht weg auf den Beinen,
ihr werdet jetzt alle zu leblosen Steinen!“

Dann schnellte er bis in die Baumkrone hoch, drehte sich einige Male in der Luft, es leuchtete ein so starkes grünes Licht, dass man sonst nichts mehr sah, und im selben Augenblick wurde alles wieder still, da sich alle Räuber in Steinklötze verwandelten.

Jetzt wandte sich der Schlangenkönig ganz abrupt Anna und Paul zu, sodass die Kinder vor Schreck selber nicht wussten, wie es um sie stand. Dann sagte er ganz streng zu ihnen:

„Bei euch habt ihr geraubtes Gold,
das ihr nicht für euch behalten sollt!
Was da noch ist, will ich sehen und hören,
weil Schlangen alleine einander gehören!

Den Fluch werde ich selber brechen,
ihr müsst mir jetzt doch fest versprechen,
zu erzählen nah und fern,
vom Schlangenkönig, größten Herrn!“

Dies versprachen sie gleich hoch und heilig, da sie ja bemerkten, dass der Schlangenkönig, bereits bevor sie es ihm gesagt hätten, wusste, warum sie ihn besuchten. Sie versprachen ihm auch hoch und heilig, dass sie die Taler zu Hause in ihrem Dorf verteilen würden, damit es bei ihnen keine armen Menschen mehr gebe, und jedermann sein ganzes Leben lang glücklich sein könne.

Dann band die Anna ihre Schürze los und zeigte dem Schlangenkönig die Hausschlange. Diese hob langsam den Kopf hoch. Im Sonnenaufgang strahlte und glänzte sie so richtig.

Eine ganze Weile schauten die beiden einander nur gründlich an, züngelten, sagten manchmal „Pst, pst!“ zueinander, schließlich meinte der Schlangenkönig ganz leise:

„Es brachte mich dein Blick zum Lieben,
sind wir einander ins Herz geschrieben?“

Die Hausschlange errötete im Gesicht und erwiderte:

„Wenn ich in deine Augen schaue,
dir von jetzt an stets vertraue.“

Sie begann dann, sich mit hochgehaltenem Kopf herumzuschlängeln.

Der Schlangenkönig konnte sich in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal verlieben, und selbst das musste ihn sein Königtum kosten. Deshalb sagte er:

„Im Stand war ich von großen Herren.
Da ich dich will in ‘s Herz mir sperren,
will ablegen ich meine Krone,
damit ich hier nicht weiter throne.

Lieber will ich arm sein, glücklich,
also gleich und augenblicklich,
als Macht zu haben, Herrschaft, groß,
wenn ich alleine bin hier bloß.“

Was hätte die Hausschlange glücklicher machen können als solche Worte? Sie rutschte von der Schürze ins Gras, und der Fluch war vorbei.

Die beiden Schlangen richteten sich jetzt auf, einander ganz nahe, schauten einander ganz tief in die Augen, dann zischte die Hausschlange dem Schlangenkönig so leise „Pst, pst“ in die Ohren, dass es vielleicht nur dieser hören konnte. Dann sprach sie:

„Ich hab gelebt in einer Spalte,
damit ich mich gar nicht entfalte.
Ein Unglück hat mich von der Schwelle
gebracht daher auf diese Stelle.

Jetzt will ich nur mit dir noch sein,
mit dir zusammen, immer fein!
So will ich dir mein Jawort geben,
treu und einig mit dir leben.“

Obwohl der Schlangenkönig wusste, dass damit seine ganze Macht vorbei war, sagte er gleich aufs Wort, ohne weiter zu überlegen:

„Die Krone soll der Kaiser haben
von heute an bis immer –
dann steh‘ ich zwar da ohne Gaben,
doch Einsamkeit ist schlimmer!“

Damit war es auch soweit, die Krone war verschwunden. Der Schlangenkönig hatte es noch vor vielen Jahren mit dem Kaiser abgemacht: Wenn er seine Krone vielleicht einmal nicht mehr brauche, soll der Kaiser sie bekommen. Jetzt war es soweit, der deutsch-römische Kaiser hatte von diesem Tag an ein weiteres Land mehr.

Dem Schlangenkönig war das aber ganz egal, denn sein eigenes Glück war ihm viel wichtiger. Die beiden Schlangen krochen davon, schön nebeneinander, während sie sich die ganze Zeit in die Augen schauten. Einen Blick zurück gab es von ihnen nicht mehr. Im Gras und unter den Hecken konnte man sie noch eine Weile sehen, dann waren sie für immer im Wald verschwunden.

13. Wieder zu Hause 

Anna und Paul standen noch eine kleine Weile dort, dann sagte Paul mit großer Freude: „Komm, Anna, lass uns jetzt auch nach Hause gehen!“ Er pfiff laut, und daraufhin kamen alle Pferde von den Räubern im Trab zu ihnen gelaufen. Er hatte sie ja jeden Tag schön gestriegelt und gut gefüttert, so folgten sie ihm. 

Es gab unter ihnen auch zwei Schimmel, der eine hatte sogar dem Milosch selber gehört. Anna und Paul saßen auf, ritten durch den Wald, über die Brücke, am Steinbruch vorbei bis zum Kroatengraben, und alle Pferde trabten ihnen hinterher. Dort saßen sie ab und ließen die Pferde erst einmal grasen und trinken.

Als sie den Hohlweg herunter am Bischofskreuz ankamen, war es gerade Mittag, und die Glocken begannen zu läuten. Dort hielten sie an, der Paul nahm seinen Hut vom Kopf, die Anna kniete sich vor dem Kreuz hin, sie beteten und sagten der Gottesmutter schönen Dank dafür, dass sie ihnen aus der großen Not herausgeholfen hat.

In dem Dorf hörten die Leute, dass da Pferde den Weg hertrabten. In der Staubwolke konnten sie ja nichts sehen, und alle bekamen große Angst: „Jessus Maria, der Milosch ist mit seiner Bande da, die Räuber kommen!“, hieß es. „Was wollen die uns noch wegnehmen? Wir haben doch gar nichts mehr! Gott erbarme sich unser!“, riefen sie einander in großer Angst zu.

Dann versteckte sich jeder, wo er halt konnte: der eine auf dem Dachboden, die andere hinter der Kellertür, im Heu oder im Hühnerstall. Die Leute dachten, jetzt wäre es aus mit ihnen.

Aber dann hörte man, als die Pferde bereits ganz nahe waren, Kinderstimmen rufen. Das waren ja die Anna und der Paul! Das wollte niemand glauben, alleine die Mutter von der Anna sagte wieder zu ihrem Mann: „Stimmt ‘s, Joseph, du hast mir nicht glauben wollen? Ich habe dir doch schon immer gesagt, unsere Tochter wird doch einmal nach Hause kommen!“ Dann lief gleich das ganze Dorf zusammen, damit alle Leute das Wunder sahen. 

Pauls Eltern umarmten ihren Sohn so heftig, dass er fast keine Luft mehr bekam und beinahe ohnmächtig wurde. Annas Vater nahm seine Tochter bei der Hand, und er brauchte dazu keine Musik, so tanzte er mit ihr bis nach Hause, durch das Eingangstor hinein, ganz bis in die schöne Stube. Das war halt ein Feiertag für alle Leute!

Das Glück war beisammen, es hätte nicht größer sein können. Dann gingen Anna und Paul von einem Haus zum anderen, lobten und priesen überall den Schlangenkönig, sie führten bei jedem Haus ein Pferd von den Räubern in den Stall und gaben jedermann einen Taler oder zwei, sodass es im Dorf von da an keine armen Leute mehr gab.

Die Zeit verging schnell. Nach sieben Jahren und einen Tag darauf heirateten Anna und Paul, da sie ja einander versprochen waren. Aus sieben Nachbarsdörfern waren alle Leute eingeladen, und getanzt wurde, dass sich die Bretter bogen. Der Wein lief bis in den Bachgraben, selbst die Hunde und die Katzen fraßen sich mit Wurst voll. Krautknödel und Strudel hatte man auch noch einen Tag darauf, sodass sich keine Hausfrau ums Kochen kümmern musste.

Kurze Zeit später bauten Anna und Paul ein eigenes Haus. Sie haben einen schönen Platz gefunden, von dort aus konnte man zum Kroatengraben, aber auch bis hinauf zum Steinbruchswald sehen.

Als gerade die Tür eingesetzt werden sollte, machte es auf einmal „Pst, pst!“, und es hieß:

„Passt auf, da gibt ‘s ein gold‘nes Ei,
gelegt von mir in diesem Mai!
Glück soll ‘s bringen, langes Leben,
es soll auch Brot mit Milch noch geben!“

Anna und Paul haben einander nur tief in die Augen geschaut, da sie schon gemeint hatten, die Hauschlange und der Schlangenkönig hätten sie für immer vergessen.

Die zwei waren glücklich, und nicht einmal ein ganzes Jahr darauf…

„… haben sie eine liebe Tochter bekommen,
so wird die Geschichte noch weitergesponnen.
Und wenn sie auch starben in guten Sitten,
so denkt an sie, drum will ich bitten!“

Ende